Zwischen Hunger und Auflehnung – Bulimie als Ausdruck konflikthafter Weiblichkeit
Einleitung
Bulimia nervosa ist Ausdruck innerer Konflikte, die oft tief mit der eigenen Geschichte, dem Verhältnis zum Körper und dem Frausein verbunden sind. Sie betrifft fast ausschließlich Frauen – und das ist kein Zufall.
In meiner Diplomarbeit mit dem Titel “Bullimia nervosa als modernes Syndrom konflikthafter Weiblichkeit” habe ich mich mit der Frage beschäftigt, was Bulimie über das Frausein in unserer Zeit erzählt. Dabei habe ich psychotherapeutische, psychoanalytische und gesellschaftliche Perspektiven miteinander verbunden.
Frühe Beziehungserfahrungen und emotionale Versorgung
Psychoanalytische Theorien gehen davon aus, dass frühe Beziehungserfahrungen – besonders mit der Mutter oder ersten Bezugsperson – eine entscheidende Rolle für unsere seelische Entwicklung spielen. Die sogenannte „mütterliche Brust“ steht hier symbolisch für emotionale Versorgung: Für das Gefühl, gehalten, verstanden und beruhigt zu werden.
Fehlt diese Form von emotionalem Halt oder bleibt sie unzuverlässig, können sich im Inneren chaotische Zustände entwickeln. Manche Menschen versuchen später – oft unbewusst – über das Essen dieses gute Gefühl nachzuholen: Sie wollen etwas in sich aufnehmen, das nährt und beruhigt. Gleichzeitig wird es auch wieder abgestoßen – als ob es zu viel Nähe oder Abhängigkeit bedeuten würde.
Die Bedeutung von Essen und Erbrechen
In der Bulimie steht das Essen oft stellvertretend für eine emotionale Sehnsucht – häufig in Verbindung mit der Mutterfigur. Nahrung wird idealisiert, als etwas Tröstendes oder Kontrollierbares erlebt – und kurz darauf wieder bekämpft, „entwertet“ und ausgestoßen. Dieser Kreislauf spiegelt ein tiefes inneres Hin- und Her: Zwischen dem Wunsch nach Nähe und dem Bedürfnis nach Abgrenzung.
Weibliche Identität und gesellschaftlicher Druck
Unsere Gesellschaft gibt Frauen widersprüchliche Botschaften: Sei erfolgreich, schön, leistungsfähig – aber auch fürsorglich, bescheiden, angepasst. Viele Frauen erleben sich im Spannungsfeld zwischen Selbstbehauptung und Selbstaufgabe. Der eigene Körper wird dabei oft zur Projektionsfläche: für Ideale, für Wut, für Scham.
Bulimie kann in diesem Zusammenhang auch als stiller Protest gelesen werden – als Ausdruck eines unbewussten Widerstands gegen gesellschaftliche Erwartungen und innere Konflikte, für die keine Sprache gefunden wurde.
Die oft vergessene Vaterfigur – zwischen Abwertung und Spiegelung
Während in der psychotherapeutischen Arbeit oft die Mutterbeziehung im Vordergrund steht, zeigt sich zunehmend auch die Rolle des Vaters als prägend. Viele Frauen berichten von Vätern, die in der Kindheit oder Pubertät abwesend, kritisch oder verunsichernd waren – gerade in der Phase, in der die eigene weibliche Identität beginnt, Form anzunehmen.
Wertschätzende väterliche Präsenz ohne Übergriffigkeit ist in dieser Zeit besonders wichtig: nicht bewertend, nicht sexualisierend, aber aufmerksam, unterstützend und interessiert. Fehlt diese Form der Anerkennung, bleibt oft eine Leerstelle zurück, in der Unsicherheit und Selbstentwertung gedeihen können – und in der der Körper zur Bühne innerer Konflikte wird.
Bulimie als Spiegel gesellschaftlicher Spannungen
Bulimie ist nicht nur ein individuelles Geschehen – sie ist auch ein Symptom unserer Zeit. Der Kulturpsychologe Tilmann Habermas beschreibt sie als sogenannte „ethnische Störung“: eine Form seelischen Leidens, die eng mit gesellschaftlichen Werten und Bildern verknüpft ist. Während die Hysterie im 19. Jahrhundert öffentlich war, inszeniert, laut – ist die Bulimie leise, heimlich, kontrolliert. Sie passt damit in eine Zeit, die Selbstoptimierung, Disziplin und Anpassung hoch bewertet.
Feministische Autorinnen wie Susie Orbach oder Elisabeth Horstkotte-Höcker sehen in der Bulimie eine Reaktion auf die Überforderung, die mit widersprüchlichen Weiblichkeitsanforderungen einhergeht: zwischen Autonomie und Fürsorge, Kontrolle und Hingabe, Stärke und Anpassung. Der weibliche Körper wird dabei zum Austragungsort dieses inneren Konflikts – und die Essstörung zur Sprache.
Fazit
Bulimie ist vielschichtig. Sie ist eine Sprache ohne Worte – eine Ausdrucksform von innerem Schmerz, ungelöster Beziehungserfahrung, kulturellem Druck und fehlender Anerkennung. Wer beginnt, sie nicht nur als „Problem mit dem Essen“, sondern als Symbol für ungehörte Konflikte zu verstehen, kann neue Wege der Annäherung und Heilung finden.
Ausgewählte Quellen aus der Diplomarbeit
• Habermas, T. (1996). Die Entwicklung des Lebensgeschichtlichen Denkens.
• Orbach, S. (1986). Fat is a Feminist Issue.
• Horstkotte-Höcker, E. (1987). Die Sucht der Braven.
• Winnicott, D. W. (1971). Playing and Reality.
• Balint, M. (1968). Therapeutische Aspekte bei der Regression.
• Ettl, T. (2013). Bulimie und Primärbeziehung.